J. Müske u.a. (Hrsg): Radio und Identitätspolitiken

Cover
Titel
Radio und Identitätspolitiken. Kulturwissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
Müske, Johannes; Föllmer, Golo; Hengartner, Thomas; Leimgruber, Walter
Reihe
Studien zur Popularmusik
Erschienen
Bielefeld 2019: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 34,99
von
Robert Heinze, Abteilung Afrika, Deutsches Historisches Institut Paris

Die Geschichte des Radios, immerhin für den grössten Teil des 20. Jahrhunderts das wichtigste und meist konsumierte Massenmedium weltweit, wurde lange stiefmütterlich behandelt. Der schweizerische Verein Memoriav, der sich bereits seit 1995 um die Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts in der Schweiz kümmert und dabei breit digitalisiert als auch katalogisiert, kann in diesem Bereich eine Vorreiterrolle für sich beanspruchen. Ebenso sticht die Forschungsgruppe «Broadcasting Swissness» der Universität Zürich hervor, die ausgehend von der am Schweizer Radio International erstellten Sammlung Dür die Rolle der Volksmusik in der Konstruktion und Vermittlung schweizerischer Identität untersucht. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer in diesem Zusammenhang entstandenen Tagung, weist aber über das Thema «Swissness» hinaus, indem er internationale Fallbeispiele und methodische Reflektionen mit einbezieht. Auch die Artikel, die sich spezifischer mit der Sammlung Dür und der Rolle der volkskundlichen Musikforschung und der Volksmusik im Schweizer Radio befassen, sind aufgrund ihres Ansatzes und ihrer Erkenntnisse jenseits der Schweizer Radiogeschichte relevant.

Der Band ist in fünf inhaltliche Blöcke und drei einleitende Artikel unterteilt. Im Block «Radio und Sound» erkunden Hans-Ulrich Wagner, Felix Wirth und Roland Jäger jeweils anhand einzelner Programmbeispiele die Nutzung von Tönen im Radio zur Her stellung bestimmter Atmosphären, Identitäten und Räume. Wagner stellt eine Studie zu Raumkonstruktionen mittels Tönen am Beispiel einer Hamburger Werbeplatte vor. Hamburg als «Tor zur Welt» wurde mit Dampfpfeifen und Schiffshörnern, «ikonischen Sounds», als «Repräsentationsraum» gestaltet. Ermöglicht wurde dies durch neue Rundfunktechniken und -genres. Wagner verdeutlicht so auch ein methodisches Vorgehen zur Analyse und Kontextualisierung von Tonquellen. Felix Wirth erarbeitet auf der Grundlage eines Sets von Science-Fiction-Hörspielen eine historische Semiologie der Töne und Sprechweisen, die «Nova», das heisst die Darstellung von Neuem, Unbekanntem vermitteln sollten. Er zeigt, wie der historische Kontext bestimmte Sounds und Musikgenres obsolet machte und zur Neuerung zwang. Wirth schliesst daraus auf die «historische Bedingtheit und Wandelbarkeit von akustischen Stereotypen». Jäger geht noch tiefer in die semiotische Analyse und untersucht einzelne Formen von «Codes» eines Radiobeitrags, insbesondere verschiedene lexikalische und symbolische Zeichen. Zusammen zeigen diese drei Beiträge unterschiedliche Herangehensweisen an die Analyse auditiver Zeichen und ihrer Fruchtbarmachung nicht nur, aber auch für die Geschichtswissenschaft. Im zweiten Teil zu «Imaginierten Gemeinschaften» erkunden Kathrin Dreckmann, Thomas Felfer und Martina Novosel das Anderson’sche Konzept im Zusammenhang mit dem Radio. Dreckmann untersucht die Herstellung der Volksgemeinschaft im nationalsozialistischen Radio mittels Propaganda, der Nutzung von «Hörräumen» und der ideologischen Aufladung von Musik inklusive damit verbundener Körperpolitiken. Felfer beschreibt die Nutzung von Glocken als Symbol der Heimat durch den österreichischen Rundfunk. Nicht nur waren verschiedene Glocken mit bestimmten national relevanten Ereignissen oder Orten verbunden, sondern Hörer integrierten die jeweils zur Mittagszeit im Radio erklingenden Glocken auf unterschiedliche Weise in ihren Alltag. Die verschie denen Glocken stellen sich als «aural iconography» dar. Novosel spürt der Entwicklung der kroatischen Tamburica (ein Instrument und eine Musikrichtung) zur nationalen und nationalistischen Musik im Zuge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien der 1990er nach. Diese Integration in den nationalen Kanon, auch über das Radio, war jedoch mit Konflikten und Diskussionen um die «eigentliche» Tamburica, ihrer regionalen oder nationalen Verankerung und ihrer Rolle im nationalen Kanon verbunden. Auch in diesem Block zeigt sich eine interdisziplinäre Vielfalt von Herangehensweisen an Radio und Sound als identitätsbildende und politisch und ideologisch nutzbare Zeichensysteme.

Im dritten Block werden schliesslich Einzelprojekte aus der Forschungsgruppe «Broadcasting Swissness» vorgestellt. Thomas Järmann analysiert den Gebrauch von Blasmusik im Radio, spezifisch anhand der Entwicklung der symphonischen Blasmusik. Im Zuge der «Geistigen Landesverteidigung» in den 1930er Jahren aus England importiert und viele Einflüsse von ausserhalb der Schweiz aufnehmend, wurde die Blasmusik dennoch zu einem Symbol der «Swissness». Die Diversität der «Swissness» ausdrückenden Musik schlägt sich nicht zuletzt in der Sammlung Dür nieder. Auch in Johannes Rühls und Johannes Müskes Beiträgen zeigt sich die Komplexität des musikalischen Erbes und dessen nationaler Aufladung, hier in den Konflikten zwischen Ländlerszene und Radio einerseits, Volkskunde und Radio andererseits um die Frage der authentischen Schweizer Musik. In beiden Fällen laufen die Konfliktlinien entlang eher konservativer bzw. fachlicher Vorstellungen von «authentisch» schweizerischer Volksmusik und ihrer Popularisierung durch das Radio, das auch eine Professionalisierung und die Vermischung mit neuen Instrumenten und Anpassung an neue Hörgewohnheiten beinhaltete. Zwischen konservativen und liberalen Interpretationen im Fall der Ländlermusikszene bzw. Fragen der Authentizität im Verhältnis mit der Volkskunde entspannen sich komplexe Konflikte um die «richtige» schweizerische Musik. Trotz ähnlicher Interessen und fruchtbarer Zusammenarbeit in der Aufnahme und Erforschung von schweizerischer Volksmusik schieden sich die Ansprüche immer wieder. Dies verweist auch auf eine grundsätzliche Spannung im Radio selbst, zwischen Vorstellungen der Produzenten von der Schaffung einer nationalen Identität und den Hörerwünschen.

Diese Spannung zeigt sich auch in den zwei ansonsten sehr unterschiedlichen Beiträgen des vierten Blocks. Andreas Zeising untersucht am Beispiel des Dürer-Jubiläums 1928, wie sich konservativ-nationaler Dürermythos und bürgerliches Bildungsideal im Radio gegenüberstanden. In Rüdiger Ritters Artikel zu William Conovers berühmter «Jazz Hour» in der Voice of America zeigt sich die Herausbildung einer internationalen Hörergemeinde, die produktiv die kommunistische Propaganda vom Jazz als widerständiger Musik wie auch die US-Politik, den Jazz als genuin amerikanische Kultur zu exportieren, für sich zu nutzen wusste.

Der Band schliesst mit zwei Beiträgen, die medial über das Radio hinausweisen, indem sie historische Hörerbriefe und heutige soziale Medien als essenziellen Teil der medialen Landschaft des Radios analysieren. Fanny Jones zeigt wie Ritter eine internationale Hörergemeinde und deren aktive Pflege durch das Schweizer Radio International. Thomas Wilke analysiert den Social-Media-Auftritt des Südwestdeutschen Rundfunks. Wilke betont den intermedialen Charakter aktueller Radiorezeption und -produktion; Jones zeigt dagegen, dass Hörerengagement und Rückkopplung der einseitigen Kommunikation des Radios bereits seit seinem Beginn ein wichtiger Aspekt der Rundfunkarbeit waren.

Auffallend sind die bei aller Breite der Themen deutlich hervortretenden Zusammenhänge in den untersuchten Phänomenen und in den methodischen Herangehensweisen. Die Interdisziplinarität des Bandes kann fruchtbar und produktiv auf die weitere medienwissenschaftliche, ethnologische und historische Forschung zum Radio wirken; die Unterteilung in Blöcke hebt diese Zusammenhänge deutlich hervor. Dabei stechen die Semiologie des Hörens, die komplexen Beziehungen zwischen Hörenden und Produzierenden sowie auf der Produktionsseite zwischen Radio und externen Beitragenden wie Musikern und Wissenschaftlern besonders hervor, die das Radio in vielfältige soziale und kulturelle Beziehungsgeflechte integrieren. Diese Zusammenhänge, Themen und Impulse für die weitere Forschung wären aber noch in der Einleitung hervorzuheben, die leider nur einen kurzen Überblick gibt. Die beiden ebenso vorangestellten Keynotes von Christine Burckhardt-Seebass und Morten Michelsen geben Überblicke über die Geschichte der Musikethnologie in der Schweiz und die Verschaltung der Räume mittels Audio, die sich gut in die weiter ins Detail gehenden Beiträge einsortieren. Die erwähnten Verbindungen und produktiven, über die jeweiligen Aufsatzthemen hinausweisenden Impulse für die weitere Forschung hätten aber noch stärker hervorgehoben werden können.

Zitierweise:
Heinze, Robert: Rezension zu: Johannes Müske; Föllmer, Golo; Hengartner, Thomas; Leimgruber, Walter (Hg.), Radio und Identitätspolitiken. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 482-484. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen